Diese Fragen wünsche ich mir in der Autismus-Diagnostik (Teil 1)

Ich habe vor fast einem Jahr meine Autismus-Diagnose mit 41 Jahren erhalten. Der Diagnostik-Prozess hat sich lange hingezogen. 3 Monate voller Termine, Fragebögen und sehr seltsamer Tests. Ich möchte hier nicht zu detailliert auf das aktuelle Testverfahren (ADOS Modul 4) für Erwachsene eingehen. Aber ich möchte zumindest stark kritisieren, dass man diesem Test (und den weiteren Fragebögen) ganz stark anmerkt, dass sie noch auf veralteten Stereotypen, Fehlannahmen und eher der Diagnostik von nonverbalen oder noch sehr jungen Menschen ausgerichtet ist.

Spielzeug? Echt jetzt?

Wenn mir als 41 jährige Frau, die dank sehr starkem Masking auch berufstätig ist, Spielzeug vorlegt und bittet eine Geschichte damit zu erzählen… ja was soll ich noch sagen. Aus meiner Sicht geht das gar nicht. Und leider ist es noch viel zu oft üblich, dass Autismus-Diagnostik genau sowas beinhaltet. Oder es werden Diagnosen verweigert, weil die Person eben stark maskieren, Augenkontakt halten oder emphatisch sein kann.

Und wie kann es sein, dass wir in der neurodivergenten Community meist innerhalb von wenigen Augenblicken erkennen, dass die andere Person auch autistisch ist oder ADHS hat? Was läuft da alles in der medizinischen Diagnostik schief?

Ideen zur Verbesserung der Diagnostik

In dem Zusammenhang möchte ich hier einfach mal einige Vorschläge machen, welche Fragen oder Aufgaben in einen Diagnostik-Prozess – besonders für Erwachsene – mit aufgenommen werden könnten. Manche Fragen sind vielleicht eher mit einem Augenzwinkern (rw) zu verstehen, andere gehen sehr stark auf Erfahrungen aus der autistischen Community zurück, die bisher aber viel zu wenig oder gar nicht in der Diagnostik berücksichtigt werden. Vielleicht hören ja irgendwann die „Fachpersonen“ auf uns und passen den Diagnostik-Prozess entsprechend an oder führen dazu endlich mal Studien durch. Oder noch besser: selbst autistische Fachpersonen forschen genau dazu weiter und sorgen für Veränderungen 😃.

Hier also meine Vorschläge, was in die Diagnostik mit aufgenommen werden sollte. Und diese Fragen sollten Platz für Textantworten lassen – nicht bloß ja/nein-Antworten!

Und noch ein Disclaimer: ich bin keine medizinische Fachperson. Die aufgezählten Punkte kann ich lediglich aus meiner eigenen Beobachtung und Erfahrung nennen. Bzw. dies sind Punkte, die immer und immer wieder von anderen Autist*innen berichtet werden, und wo wir sehr viele gleiche Verhaltensweisen und Interessen zu haben scheinen.

Fragen

  • Gibt es Familienmitglieder mit einer Autismus- oder ADHS Diagnose? Oder bekommst Du von Außenstehenden gesagt, dass Deine Familie lustig, seltsam oder anders ist?
  • Hast Du bei dem bisherigen Diagnostik-Fragebogen stark das Bedürfnis nachzufragen, wie die Fragen gemeint sind? Oder hast Du jede Menge Anmerkungen zu Deiner Antwort? Bspw. hast Du keinerlei Interesse an Zügen, kannst Dafür aber jede Pflanze beim botanischen Namen nennen und jede Menge Fakten zu Ihnen aufzählen? oder zu einem anderen besonderen Interessengebiet von Dir? Oder Du hast bspw. kein Problem damit Socken zu tragen, weil Du eben eine gute Strategie entwickelt hast (Socken nur auf links tragen). Kannst Du bei Deinen „Nein“ Antworten ergänzen, welche Strategie Du entwickelt hast, damit der genannte Punkt für Dich nicht problematisch ist?
  • Hast Du als Kind Steine, Muscheln, Blätter, Kastanien, Nüsse oder Zapfen gesammelt, die Du in der Natur gefunden hast? Tust Du das noch heute und findest Du immer wieder diese in Deinen Jacken- oder Hosentaschen?
  • Musst Du jeden Tag das gleiche Frühstück/Mittag- oder Abendessen essen? Bzw. wenn Du das nicht tust, wird es ein schlechter Tag.
  • Hast Du Dich als Kind besonders stark für Pferde, Dinosaurier, Vögel oder andere Tiere (z.B. Haie, Pinguine, Insekten, Spinnen, Reptilien) interessiert? So stark, dass Du jede Information über sie gesammelt hast? Und Dir hat es extrem viel Spaß gemacht, diese zu erkennen und zu kategorisieren? Alternativ auf Themen wie Pflanzen, Pilze, das Universum, Zeichentrickserien, Bücher, Musik o.ä. bezogen. Dabei hättest Du am liebsten stundenlang über das Thema mit anderen gesprochen bzw. Dich jede freie Sekunde damit beschäftigt. Es kann auch sein, dass Du bspw. alles über Pferde lernen wolltest – aber die eigentliche Praxis, das Reiten, war dann nicht so spannend, wie das Informationen sammeln.
  • Hast Du früher gerne Dinge in eine Reihe gelegt? Also Spielzeug, Essen oder ähnliches? Am liebsten auch nach Farbe sortiert (Gummibärchen oder M&Ms).
  • Hast Du als Kind immer ein bestimmtes Spielzeug oder Kuscheltier überall hin mit Dir rumgetragen? Und wenn es mal verloren ging, ist für Dich eine Welt zusammengebrochen (rw) und Du warst nicht mehr zu beruhigen?
  • Hast Du nach der Schule/Uni/Ausbildung immer eine Auszeit alleine gebraucht? Entweder hast Du dann geschlafen, Dich in einen stillen Raum zurückgezogen oder Du wolltest mit niemandem reden. Geht es Dir heute noch so nach der Arbeit im Job oder nach sozialen Verpflichtungen/Treffen? Fühlst Du Dich dann wie erschlagen (rw), schwer, kannst kaum reden weil Du Wörter verdrehst oder vergisst? Oder Du bist so müde, dass Du erstmal nur schlafen musst? Wachbleiben klappt einfach nicht.
  • Du sprichst immer wieder in Film-, Serien- oder Buchzitaten. Sagt jemand z.B. „uiuiui“, ist es Dir ein ganz starkes Bedürfnis darauf mit „Tiffy“ zu antworten (Zitat aus Sesamstraße).
  • Vor fast jedem Gespräch (z.B. Arzttermin, mit Chef*in, Bestellung am Telefon, …) planst Du gedanklich, was Du wie sagen willst. Du übst immer und immer wieder im Kopf, was Du sagen willst oder musst. Vor Telefonaten schreibst Du Dir alle wichtigen Punkte auf, die Du sagen willst. Teilweise sogar Deinen eigenen Namen. Wenn Du das nicht tust, kann es sonst passieren, dass Du nichts sagen kannst. Besonders wenn das Gespräch eine unerwartete Wendung nimmt.
  • Hast Du oder hattest Du bunt gefärbte Haare? Oder willst Du Dir schon das ganze Leben lang Deine Haare in bunten, auffälligen Farben färben?
  • Interessierst Du Dich ganz stark für Japan, Anime oder Manga? Oder war das ein ganz großes Interesse in Deiner Jugend?
  • Kaufst Du gleiche Kleidung die Du magst in mehrfacher Ausführung? Also ein Pullover in 4 verschiedenen Farben oder sogar der gleichen Farbe. Weil Du dieses Kleidungsstück so sehr magst und Angst hast, nicht nochmal so ein gut passendes, bequemes Kleidungsstück zu finden.
  • Schneidest Du direkt alle Etiketten aus Deiner Kleidung, weil diese unerträglich kratzen?
  • Du trägst lieber Kleidung, die bequem ist, als modische Kleidung?
  • Du verstehst Mode und den Sinn dahinter nicht. Alternativ ist Mode ein ganz extremes Interesse von Dir.
  • Bestimmte Stoffe (Wolle, Microfaser) fühlen sich für Dich unerträglich auf der Haut an?
  • Wenn Du Pappe, Styropor, Luftballons oder quietschige Gläser anfasst, fühlst Du Dich körperlich extrem unwohl. Teilweise erzeugt das einen Würgereiz bei Dir, oder Du musst Dich schütteln.
  • Du warst oder bist immer eine Außenseiterin. Oder Dein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus anderen Außenseitern.
  • Du wirst von anderen eher als sehr schüchtern und zurückhalten beschrieben. Außer wenn ein Thema aufkommt, das Dich extrem interessiert. Dann kannst Du darüber stundenlang reden und Fakten aufzählen.
  • Du hast das Gefühl, dass Du anderen Menschen immer wieder zu viel Dinge über Dich erzählst, die scheinbar zu intim sind. Oder es wird als unangemessen von anderen empfunden.
  • Wenn Dir jemand erzählt, was ihnen negatives widerfahren ist, zeigst Du Deine Empathie dadurch, dass Du erzählst welche ähnliche Situationen Dir passiert sind.
  • Du kannst extrem schnell die Gefühle einer anderen Person erkennen. Teilweise so extrem, dass diese Gefühle auf Dich übergreifen. Ist jemand wütend, wirst Du plötzlich auch wütend. Du kannst Dich fast nicht gegen die Gefühle anderer abgrenzen, was einen Raum mit vielen Menschen extrem anstrengend macht.
  • Du verstehst Ironie, Sarkasmus oder Redewendungen von anderen Personen nicht intuitiv. Redewendungen interpretierst Du zuerst immer wortwörtlich bzw. siehst sofort die Redewendung bildlich in Gedanken.
  • Du versuchst ein Leben lang Gestik, Mimik und soziale Verhaltensweisen über Hilfsmittel wie Bücher oder Trainings zu lernen. Psychologie kann ein extremes Interesse von Dir sein. Du lernst regelrecht Verhaltensweisen auswendig und kontrollierst Dich immerzu im Spiegel/Webcam. Oder während einer sozialen Interaktion prüfst und korrigierst Du ständig Dein Verhalten.
  • Fällt es Dir schwer komplett still zu stehen? Hast Du ein ganz starkes Bedürfnis danach, seitlich hin- und herzuwiegen oder auf- und abzuwippen?
  • Setzt Du Dich am liebsten auf den Boden, oder sitzt z.B. im Schneidersitz auf dem Stuhl?
  • Haben Zahlen oder Wörter für Dich bestimmte Farben? Kannst Du Musik schmecken oder fühlen? Wie siehst Du bspw. Monate oder Wochentage? Wie verlaufen Zahlen für Dich?
  • Isst Du kein oder wenig Obst und Gemüse, weil sich das im Mund nicht gut anfühlt oder weil sich Geschmack und Konsistenz zu oft unterscheiden können?
  • Bist den ganzen Tag über immer wieder mit Füßen/Beinen am wippen oder reibst Du immer wieder Hände, Füße oder Finger aneinander? Liebst Du es Oberflächen mit den Händen zu erkunden oder glatte Gegenstände über das Gesicht zu fahren? Oder riechst Du immer wieder (heimlich) an Dir selber oder an Kuscheltiere oder Stoffen (Schal, Kissen, T-Shirt, …).
  • Du kannst Augenkontakt halten, aber Du musst ständig nachdenken, wieviel Augenkontakt korrekt ist? Du überlegst, wann Du wegschaust, wieder hinschaust oder ob Du zu viel oder wenig Augenkontakt hältst? Oder Du blinzelst sehr stark bei Augenkontakt. Alternativ schaust Du ganz bewusst nur auf den Mund, die Nasenwurzel oder die Stirn.
  • Wurdest Du als Kind immer wieder als „seltsam„, „komisch“ oder „schräg“ bezeichnet? Wurdest Du in der Schule oder auch auf der Arbeit immer wieder gemobbt? Fühlst Du Dich ganz oft so, als ob Du nicht dazugehörst? Bzw. hast Du den Eindruck, dass Du Dich immer bewusst anpassen musst, um in einer Gruppe oder von anderen Personen angenommen zu werden?

Aufgaben

  • Iss ein Schokokuss/Milchschnitte/Rocher/Giotto.
    (Wird kompliziert in Schichten gegessen? Also erst die äußere Schicht und dann die einzelnen Komponenten (Creme, Hülle, …) getrennt voneinander?)
  • Es werden bunte Legosteine, Gummibärchen oder M&Ms vor der Person verteilt. Schauen was passiert.
    (Will die Person die Dinge farblich oder in Reihe sortieren?)
  • Geräusche von bspw. Staubsauger, Straßenlärm oder Restaurant vorspielen und währenddessen Fragen stellen.
    (Schaut die Person sehr angestrengt, obwohl das Gehör in Ordnung ist? Blinzelt sie stark oder hält sie sich die Ohren zu? Versteht sie die Fragen nicht oder wird sie plötzlich extrem wortkarg?)
  • Die Person auf einen wippenden Stuhl setzen.
    (Bleibt die Person ruhig sitzen, oder fängt sich noch so minimal an mit dem Stuhl zu wippen?)
  • Lass die Person eine Weile mit einer anderen autistischen Person allein.
    (was ist der Eindruck der anderen autistischen Person?)

Bitte versteht die Fragen nicht so, dass das alles auf Dich zutreffen musst, um zu erkennen, dass Du autistisch bist. Stattdessen sind es ergänzende Fragen, bei denen sich auffällige Antworten zeigen können, die so gehäuft sehr wahrscheinlich nicht bei Neurotypischen Menschen vorkommen.

Was denkst Du? Welche Fragen oder Aufgaben sollten Deiner Meinung nach in die Diagnostik mit aufgenommen werden? Und was sollte unbedingt aus der aktuellen Diagnostik entfernt werden? Schreib’s in die Kommentare.


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2 Kommentare zu „Diese Fragen wünsche ich mir in der Autismus-Diagnostik (Teil 1)“

  1. Ich finde deine Ergänzungen sehr alltagsnah und gut gewählt. Danke dafür. Meine Erfahrungen mit Diagnostik, wenn auch nicht zum Autismus ist, dass sie nur funktioniert, wenn ein Austausch statt findet und der Diagnostiker emphatisch mit der Situation umgeht und nicht einfach ein Programm abspult.

    1. Hallo Anna,
      da hast Du absolut recht. Wenn die Person in der Diagnostik emphatisch mit einem umgeht ist schon ganz viel erreicht. Ich finde es auch wichtig, dass dann weiter über die Ergebnisse gesprochen wird und die diagnostizierende Person offen für evtl. weitere aktuelle Studienlagen ist. Ich hatte meinen Psychologen bspw. auch auf einige Studien bzgl. Masking oder auch Frauen in der ADOS Diagnostik hingewiesen. Er hat diese dann auch mit berücksichtigt.

      Auf jeden Fall vielen Dank für Deinen Kommentar :-).

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