„Wofür brauchst Du eine Diagnose?“

Der Weg zu meiner Diagnose war nicht so einfach. Die Diagnose habe ich erst kurz nach meinem 41. Geburtstag erhalten. Eine erste leise Vermutung hatte ich gut 6 Jahre davor, als ich ein Video zu einer Autistin gesehen hatte, die auch spät diagnostiziert war. Sie war so gar nicht wie Sheldon Cooper oder Rain Man. Die ganzen Vorurteile, die sich leider hartnäckig halten, wurden mit diesem Video weggewischt. Stattdessen war da eine junge Frau, die Dinge beschrieb, die ich ganz stark nachempfinden konnte. Dadurch kam ich das erste Mal ins Grübeln. Ich wusste im Grunde von Kindheit an, dass ich irgendwie anders als andere Menschen bin.

Ich war immer die Außenseiterin. Immer die Komische. Ich hatte es bisher nur auf meine Lebensumstände geschoben und meine anderen chronischen Krankheiten, die schon im Kindesalter ungewollt die Aufmerksamkeit auf mich zogen. Nach dem Video begann ich aber etwas mehr zu dem Thema nachzuforschen. Da waren plötzlich andere Menschen, die meine Erfahrungen teilen konnten. Die ein Leben lang gemobbt wurden. Die sich auf Partys oder sozialen Treffen immer fehl am Platz fühlten. Und mir wurde nach und nach bewusst, dass manche Dinge, die ich als ganz normal annahm, andere Menschen nicht so erlebten oder nachvollziehen konnten.

Endlich fühlte ich mich dazugehörig und nicht als unzureichend oder fehlerhaft

Somit hatte ich das erste Mal Gedanken, dass eine Diagnose mir dabei helfen kann, mich selber endlich besser zu verstehen. Ich begann also erste Autismus Screening-Tests zu machen und tatsächlich legten mir die Ergebnisse nahe, eine offizielle Diagnose zu durchlaufen, da sehr starke Anzeichen für Autismus in meinen Testergebnissen zu sehen waren. Ich begann nach Infos zu suchen, wie man eine Diagnose erhalten kann und war erst mal ernüchtert. Man findet fast nur Infos zur Diagnose von Kindern und wenn man dann an eine Diagnosestelle für Erwachsene kommt, stellt man fest, dass diese oft auf Jahre(!) ausgebucht ist. Also legte ich den Gedanken einer Diagnose erst mal auf Eis.

In der Zwischenzeit beschäftigte ich mich aber weiter mit dem Thema. Schaute Videos, las Bücher und Blogs und sammelte viel Wissen, womit Autisten Schwierigkeiten haben und was ihnen helfen kann. So begann ich mir erste Hilfsmittel wie Fidget-Toys zuzulegen und achtete bewusster auf mich und wie mein Alltag Auswirkungen auf mich hatte. Ich hatte also schon ein gewisses Verständnis dafür entwickelt, worauf ich als Autistin achten sollte und was ich konkret tun kann, damit ich in meinem Alltag besser zurechtkomme.

Denn es gab viele Punkte, an denen ich große Probleme hatte

Viele meiner Probleme waren mir anfangs noch nicht so bewusst. Ich dachte, dass es jedem so geht. Ich dachte, dass jeder die lauten Geräusche im Alltag schrecklich findet. Oder ich dachte, dass ich mich eben einfach nur anstelle, wenn ich keine Microfaser-Tücher anfassen kann, weil es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Mit der Zeit wurde mir aber immer klarer, was meine Probleme im ganz normalen Alltag sind:

  • Laute Geräusche
  • Bestimmte Gerüche
  • Lichtempfindlichkeit
  • Körperkontakt
  • Smalltalk
  • Telefonate
  • Kommunikation privat und im Beruf

Das ist jetzt nur eine kleine Liste – sie wurde mit der Zeit aber immer länger. Ich versuchte mir selber Hilfsmittel zu schaffen, um besser klarzukommen. Ich musste aber feststellen, dass das alleine nicht ausreicht. Denn wenn ich bspw. Schwierigkeiten mit dem Telefonieren habe, schaffe ich es z.B. nicht beim Arzt anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren. Und die Praxis besteht auf telefonischen Kontakt. Es wird mir fast keine barrierefreie Alternative geboten, wie ich dennoch zu meinem Termin kommen kann. Selbst Praxen, die Kontaktformulare haben, schreiben dann zurück, dass man doch anrufen solle. Dass ich für so ein Telefonat manchmal wochenlang Energie sammeln muss, ist da nicht hilfreich.

Oder ich versuche sensorischen Reizen auf Partys aus dem Weg zu gehen. Dann sind Freunde oder Bekannte aber schnell beleidigt, weil man sich bei Treffen schnell zurückzieht. Oder man bekommt nur ein paar nette Worte wie „ach, stell Dich doch nicht so an.“ gesagt.

Anders sein ohne konkrete Erklärung wird ganz schnell von Mitmenschen abgestraft

Ich brauche meine Diagnose also „nicht nur für mich“, sondern auch für mein Umfeld. Damit mein Umfeld mich und mein Verhalten einzuordnen weiß. Da es vielen nicht ausreicht, wenn ich sage „ich habe dafür keine Energie“ oder „das ist mir zu laut“. Das Umfeld will eine Erklärung, warum ich anders bin. Ohne diese bin ich eine Zielscheibe für Mobbing und ausgrenzendes Verhalten. Denn wenn es ein Arzt offiziell bestätigt hat, dass ich eben anders funktioniere, dann versteht es das Umfeld eher, als wenn ich sage „reden stresst mich gerade extrem“.

Ein weiterer Punkt, der mich Schlussendlich zur Diagnose gebracht hat war, dass ich trotz meiner zwischenzeitlich erfolgten Selbstdiagnose und genutzter Hilfsmittel, erneut an einem Punkt in Leben befand, an dem ich mit Depressionen, Angstzuständen und einer tiefen Erschöpfung zu kämpfen hatte. Ich habe also für mich festgestellt, dass es nicht ausreicht, dass ich weiß, dass ich anders bin und warum ich anders bin. Mit einer offiziellen Diagnose habe ich ggf. eine bessere Unterstützung im Berufsleben, offiziellen Anspruch auf Hilfsmittel oder vielleicht auch Support im Alter, wenn ich auf mehr Hilfe angewiesen bin. Ich habe mein ganzes Leben bisher extrem viel Energie aufgewandt, um halbwegs so wie andere, neurotpyische Menschen zu funktionieren. Das ist aber leider nicht spurlos an mir und meiner mentalen Gesundheit vorbeigegangen. Das ständige Überdecken meiner autistischen Züge hat dazu geführt, dass ich mittlerweile sogar Probleme habe mich selber zu sehen. Wer bin ich? Welche Teile von mir, meinem Verhalten oder Auftreten sind wirklich zu mir gehörend und welche habe ich einfach als Überlebensstrategie adaptiert? Irgendwie hab ich zum Großteil auf dem Weg vergessen wer ich bin. Und das ist eine schmerzhafte Entdeckung.

Also ja – eine offizielle Diagnose ist wichtig (für mich). Aus verschiedenen Gründen. Denn ohne sie, würde meine mentale Gesundheit weiter zugrunde gehen. Ich habe 41 Jahre krampfhaft versucht irgendwo hineinzupassen. Jetzt habe ich meinen Platz gefunden und ich will mich nicht mehr verstellen. Also sprecht mir den Weg zur Diagnose nicht ab. Ich habe lange dafür gekämpft und mir ist sie wichtig. Also sollte sie euch auch wichtig sein, wenn Euch etwas an mir liegt.

Wichtig: Eine Autismus Diagnose zu erhalten ist leider immer noch ein Privileg. Für viele Menschen ist eine offizielle Diagnose schier unerreichbar. Selbstdiagnosen sind also auch absolut valide! Die Entscheidung, ob jemand eine Diagnose sucht oder nicht, ist eine ganz persönliche.


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