Mein Spezialinteresse

Im Rahmen der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung ist immer wieder die Rede von „Fixierungen auf sehr eingeschränkte Interessen, die in Intensität oder Thema ungewöhnlich sind (wie eine starke Bindung an oder Beschäftigung mit ungewöhnlichen Gegenständen; Interessen, die übermäßig eng umgrenzt sind oder denen sehr intensiv nachgegangen wird).“ Das klingt jetzt sehr klinisch beschrieben. Was steckt also etwas verständlich geschriebener dahinter? Mit einer Fixierung auf sehr eingeschränkte Interessen mit ungewöhnlicher Intensität wird ein sogenanntes Spezialinteresse von Autisten bezeichnet.

In den Medien wird dieses Spezialinteresse als Interesse an Zügen, Mathematik oder Insekten dargestellt. Diese Darstellung hat bei mir lange dafür gesorgt, dass ich dachte, dass ich ich ja gar kein Spezialinteresse habe.

Das war aber falsch.

Was die Medien und die Allgemeinheit hier nämlich nicht erwähnen ist, dass es total verschiedene Spezialinteressen geben kann. Auch Interessen, die auf andere vielleicht „ganz normal“ wirken. Gerade bei Frauen und Mädchen ist es häufig so, dass sie Spezialinteressen haben, die Außenstehende als ganz normal weibliche Interessen zuordnen würden. Solche Interessen können bspw. folgende sein:

  • Make Up
  • Mode
  • Pferde
  • Katzen
  • Musik-Bands
  • Bücher
  • Psychologie

Was macht hier den Unterschied zu einem „normalen“ Interesse? Nun, die Intensität und Dauer mit der sich die Personen damit beschäftigen. Bei Mädchen wird es jedoch häufig als „normal“ angesehen, wenn diese total in einem Interesse aufgehen und bspw. alles über eine bestimmte Band an Infos sammeln und von nichts anderem mehr reden. Oder wenn sie sich rund um die Uhr mit Make Up beschäftigen. Oder wenn sie total begeistert für Pferde sind und sich ständig damit beschäftigen.

Aber genau dieses Verhalten macht ein Spezialinteresse aus. Man beschäftigt sich intensiv mit einem Thema, sammelt alle verfügbaren Infos dazu und taucht total darin ein. Man kann stundenlang darüber reden und das Interesse hält nicht bloß eine kurze Zeit an.

Als ich das verstanden hatte, wurde mir plötzlich klar, dass ich seit 30 Jahren ein durchgängiges Spezialinteresse habe:

Japan

Seit ich ungefähr 11 Jahre alt bin interessiere ich mich durchgängig für das Land Japan und alles was dazugehört. Angefangen bei den Zeichentrickfilmen (Anime) und Comics (Manga) bin ich zu Sprache, Musik, Essen, Religion, Landeskunde, Kultur und noch viel mehr gekommen. Ich habe alles an Infos verschlungen, was ich dazu finden konnte. Als Kind war ich ständig in der Stadtbibliothek und hatte Bücher dazu gelesen. Als das Internet aufkam, konnte ich plötzlich auch so an Infos kommen. Filme aus und über Japan konsumiere ich ohne Ende. Jeden Tag schaue ich mindestens ein Video aus oder zu meinem Spezialinteresse. In der Uni lernte ich nebenbei die Sprache und fing an dorthin zu reisen. Nun mit 41 bin ich im Grunde ein wandelndes Lexikon (RW) und Reiseführer zu Japan.

Noch wichtig zum Thema „Spezialinteresse“ ist, dass die Beschäftigung mit damit autistischen Menschen unglaublich viel Energie gibt. Aus diesem Grunde wäre es fatal, einem autistischen Kind die Beschäftigung mit dem eigenen Spezialinteresse zu verweigern. Denn oft ist das Interesse mehr oder weniger das Einzige, was uns Struktur und Freude in einem ansonsten so chaotischen Leben gibt. Wenn ich mich in Ruhe mit Japan beschäftigen kann, ist das im Grunde wie eine Kuscheldecke für meine Sinne, in die ich mich wickeln kann. Eine ausgiebige Beschäftigung damit beruhigt ungemein.

Und ganz wichtig: Sollte ein Autist plötzlich nichts mehr machen wollen und sich auch nicht mehr mit dem bis dahin vorhandenen Spezialinteresse beschäftigen wollen, ist das oft ein Zeichen für einen Autistischen Burnout und ggf. depressive Phase.

Übrigens muss man auch nicht (besonders) gut in seinem Spezialinteresse sein!

Das ist auch ein Fehlglaube. Wir müssen keine Genies in dem Gebiet unseres Spezialinteresses sein. Das kann zwar auch der Fall sein, ist aber definitiv keine zwingende Voraussetzung.

Ich finde auch ganz toll finde, dass sich autistische Menschen wunderbar miteinander über die eigenen Spezialinteressen austauschen können und das auch genießen. Während neurotypische Menschen schnell genervt von unserem extremen Interesse und den damit verbundenen Infodumps (=Monologe über unsere Interessen) sind, sind andere Autist*innen eher aufgeschlossen dafür mehr darüber erfahren. So kann es dann auch ohne weiteres vorkommen, dass zwei autistische Menschen erst über das eine Interesse viel Infos austauschen und dann über das andere lange reden. Ausgiebige Informationen zu einem Thema, die uns die Möglichkeit geben, das Wissen einzuordnen und zu strukturieren sind klasse. Und unter Autist*innen ist es auch absolut unproblematisch Fragen zu stellen. Auf ein „Warum“ geben wir liebend gerne Antwort, während der neurotypische Mensch leider schnell genervt ist von den vielen Fragen.

Übrigens war eins meiner Spezialinteressen als Teenager auch „Pferde“. Ich hatte auch Reitstunden, fand es aber insgesamt viel spannender und toller alle möglichen Infos rund um Pferde zu sammeln. Also wusste ich irgendwann ganz viel über Reitstile, Sättel, Rassen usw.. Das tatsächliche Reiten dagegen fand ich aber gar nicht so interessant. Auch so kann ein Spezialinteresse aussehen ;-). Und es kann auch sein, dass es Autistische Menschen gibt, die kein Spezialinteresse haben – oder die ihr Spezialinteresse bisher immer unterdrücken mussten und sich nie damit beschäftigen durften. Also lass Dich nicht verunsichern, wenn Du aktuell kein Spezialinteresse von Dir selber benennen kannst. Versuche einfach Dich näher kennenzulernen. Was hast Du bisher immer an Dir unterdrückt? Oder womit wolltest Du Dich schon immer beschäftigen – hast es aber aus Druck aus Deinem Umfeld nicht gemacht, weil es als „kindisch“ oder „nicht angemessen“ angesehen wurde?

Also, falls Du auch ein Spezialinteresse hast – was ist es? Womit beschäftigst Du Dich? Oder womit würdest Du Dich gerne beschäftigen? Neben Japan habe ich z.B. auch noch folgende Interessen, die in der Intensität schwanken – über die ich aber immer wieder gerne Neues lerne:

  • Autismus
  • Neurodiversität
  • Gärtnern
  • Nachhaltigkeit
  • Fotografie
  • Webseitengestaltung
  • Musik und Heavy Metal
  • Malen
  • Basteln und DIY
  • Hunde
  • Soziale Normen
  • Gender Normen
  • LGBTQIA+
  • Kochen und Backen
  • Musik und Konzerte
  • Asien
  • Nordische Länder
  • Sprachen und Mundart
  • Serien (Buffy, Bones, Gilmore Girls, Dr. House, …)
  • (Neo)Paganismus
  • Astronomie
  • Gesundheit
  • Pflanzenheilkunde
  • Anthopologie
  • Lernen

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2 Kommentare zu „Mein Spezialinteresse“

  1. Huhu,
    ich lese mich gerade etwas quer durch deine Blogeinträge und wollte einfach mal einen Kommentar da lassen 🙂
    Deine Beschreibung des Pferdemädchens hat mich nämlich tatsächlich schmunzeln lassen, da ich als Kind wochenlang damit beschäftigt war, das Pferde A-Z Buch „auswendig“ zu lernen 😅 Ich kann dir jede Form einer Blesse, oder sonstigen Abzeichen nennen 🤪

    Liebe Grüße
    Susan (Insta: justmyspecialme)

    1. Hi Susan,
      lieben Dank für Deinen Kommentar – und ich bin Dir jetzt direkt mal auf Insta jetzt gefolgt :-).

      Ich fand es wichtig auch mal auf diese Art von Spezialinteressen hinzuweisen, eben weil es bisher gesellschaftlich für Mädchen als „normal“ angesehen wird, wenn sie so intensiv etwas rund um Pferde, Make-up, Mode, Lieblingsbands o.ä. lernen. Ist dagegen dann ein Junge da, der Fahrpläne von Zügen auswendig lernt, wird das schon eher mit dem typischen Bild von Autismus verbunden. Das muss denke ich auch endlich in den Köpfen vieler ankommen, dass eben auch so ein krasses Auswendiglernen von Fakten zu einem nicht „typischen Autismus-Thema“ dem autistischen Spektrum angehören kann. Natürlich heißt das jetzt nicht, dass jedes Kind mit so extremen Interessen autistisch ist – es kann aber eben der ausschlaggebende Faktor sein für das Diagnosekriterium zur „Beschäftigung mit Themen in außergewöhnlicher Intensität“.

      Und in den Fragebögen in der Diagnostik müssten dringend die Fragen bzgl. Züge, Fahrpläne usw. gegen allgemeinere Oberbegriffe ausgetauscht werden, damit genau solche autistischen Merkmale in Mädchen auch erkannt werden.

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