“Sei doch einfach Du selbst” funktioniert nicht

Wie oft habe ich den Satz gesagt bekommen, nachdem ich jemanden eröffnet habe, dass ich auf dem Autismus Spektrum bin und ich mich im Grunde dauerhaft verstelle (= maskiere), wenn ich unter anderen Menschen bin. Der Satz mag nett gemeint sein, aber hat leider sehr negative Auswirkungen. Lass mich erklären, warum genau:

Ich habe mit 41 Jahren erst meine Diagnose erhalten. Das heißt, ich hatte jahrzehntelang das Gefühl gehabt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Das ich anders bin und nirgendwo richtig hineinpasse. Von Klein auf habe ich erlebt, dass mein Verhalten bei anderen Menschen aneckt.

  • „Mach nicht so komische Geräusche“
  • „Hör auf mit dem Bein zu wippen“
  • „Sei doch kein Langweiler und mach mit!“
  • „Zappel nicht rum“
  • „Du bist komisch“
  • „Sei doch nicht so still“

Das sind nur einige der Reaktionen, die mir immer wieder entgegen gebracht wurden. Seit Kindheit an. Das hat dazu geführt, dass ich Überlebensstrategien entwickelt habe, wie ich mich unter Menschen anzupassen habe, damit ich nicht ständig negativ auffalle. Also habe ich angefangen vor anderen mein eigentliches Verhalten zu verstecken. Ich habe Bücher gelesen, wie Gestik und Mimik funktionieren, damit ich die Menschen um mich herum besser verstehen kann. Ich habe Schulungen besucht, um besser zu kommunizieren. Und ich habe Menschen um mich herum beobachtet und Teile ihres Verhalten kopiert. Denn so wie ich mich ja normalerweise verhalte, ist ja scheinbar nicht erwünscht.

Masking

Diese Überlebensstrategie wird auch Masking genannt. Auf Deutsch Maskieren. Bei Spät-Diagnostizierten ist dieses Masking im Grunde in Fleisch und Blut (Redewendung) übergegangen, denn diese Strategie hat uns mehr oder weniger gut durch die Schule, Uni, Ausbildung , Beruf oder einfache soziale Situationen gebracht. Das meiste Maskieren meinerseits habe ich anfangs noch nicht mal erkannt. Ich hatte nur gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Dass ich nach sozialen Kontakten, Parties, langen Arbeitstagen oder Ausflügen in die laute Stadt sehr viel Zeit brauche, um meine Energie wieder aufzuladen. Und anderen Mitmenschen geht das nicht so. Selbst wenn ich mich auf einen Tag mit Freunden gefreut habe, bin ich danach immer gecrasht.

Wenn ich also nicht mal weiß, was von meinem Verhalten ungesundes antrainiertes Masking ist – wie soll ich dann von jetzt auf gleich dieses Verhalten ändern können? Zusätzlich hat dieses jahrzehntelange Maskieren dazu geführt, dass ich jetzt mit 41 nicht genau weiß, welche Teile meiner Persönlichkeit und meines Verhalten im Grunde meine eigenen sind, und welche ich als Überlebensstrategie übernommen habe. Diese Erkenntnis ist ziemlich traumatisch und ein Satz wie „sei doch einfach Du selbst“ wirkt da wie Hohn, wenn ich teilweise noch nicht mal selber genau weiß, wer ich bin. Ich bin jetzt erst dabei, mich selber wieder kennenzulernen und Teile meiner Persönlichkeit wiederzuentdecken, die ich sehr lange unterdrückt, versteckt oder selber sogar als schlecht angesehen hatte. Außerdem ist es ein sehr schwerer Prozess, wenn man sich durch das Ablegen der antrainierten Maske plötzlich wieder angreifbar macht. Das Maskieren war ja im Grunde eine Reaktion auf viele traumatische Erlebnisse – die Erkenntnis, das man so, wie man eigentlich ist, andere Menschen nervt, aneckt, negativ auffällt oder dadurch zu einer Zielscheibe für Mobbing wird.

Wer bin ich eigentlich?

Ich bin also allmählich dabei, mich selber wiederzuentdecken. Und ganz ehrlich war die Pandemie meine größte Hilfe dabei. Denn im Homeoffice konnte ich endlich die vielen Reize kontrollieren, effektiver Pausen einlegen oder auch mit meinen Fidget Toys spielen, mit den Füßen wippen oder an meinem Schnuffeltuch riechen, um mich zwischendurch zu beruhigen. Ich bin aber auch erst ganz am Anfang meiner Selbstfindung und dem Ablegen meiner Maske.

Und wenn ich dann gesagt bekomme, ich soll doch einfach ich selber sein und das würde doch nicht stimmen, dass man mich nicht so annehmen würde, wie ich bin, reißt das ganz tiefe Wunden auf und spielt die vielen negativen Erlebnisse wie jahrelanges Mobbing herunter. Also bitte sagt diesen Satz nicht Euren autistischen Freunden oder Familienangehörigen. Fragt lieber nach, was sich die Person von Euch wünscht und lasst mehr Eure eigentlichen Taten sprechen. Ermunternd den/die andere zu stimmen. Lernt über Autismus von Autisten. Und hinterfragt nicht traumatische Erfahrungen, nur weil es aus Eurer Sicht vielleicht nicht so aussieht.


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