Was ist Stimming und warum ist es so wichtig?

TW: Selbstverletzendes Verhalten

Auf meinem Weg zur Autismus-Spektrum Diagnose habe ich mich intensiv mit diversen Verhaltensweisen von autistischen Menschen beschäftigt. Ein Begriff, über den man dann unwillkürlich immer wieder stolpert, ist das sogenannte Stimming. Was steckt hinter diesem Begriff?

„Stimming“ kommt aus dem Englischen und steht für „self stimulating behaviour“ – also selbst stimulierendes Verhalten. Darunter wird Verhalten verstanden, durch das sich Menschen beruhigen können, indem sie „bewusst“ ihre eigenen Sinne stimulieren. Konkret kann das folgendes Verhalten sein:

  • Ständiges Körper schaukeln
  • Mit den Händen vor den Augen flattern
  • An sich selber riechen
  • Die Finger oder Hände aneinander reiben
  • Geräusche oder bestimmte Worte wiederholen
  • Vor sich hin summen
  • Haarsträhnen um den Finger drehen
  • Ständig mit den Beinen/Füßen wippen
  • An der Wangen-Innenseite kauen

Macht das nicht jeder?

Du hast bestimmt bemerkt, dass das durchaus auch Dinge sind, die auch neurotpische (nicht-autistische) Menschen machen. Das ist auch vollkommen normal und in Ordnung. Stimming ist keiner bestimmten Menschengruppe vorbehalten! Das schöne an Stimming ist, dass es eine Art „Grounding“ ist, von der jeder profitieren kann. Der Unterschied ist hier jedoch, dass für Autisten Stimming essentiell ist. Da Autisten Probleme mit der Reiz- und Emotionsverarbeitung haben, ist Stimming gerade dafür extrem hilfreich. Es mag für neurotypische Menschen komisch klingen, aber für Autisten schafft Stimming Beruhigung. Denken fällt plötzlich wieder leichter und das ganze Chaos im Kopf lässt plötzlich nach. Man hat davor den Eindruck, man würde platzen vor (seltsamer) Energie und irgendwie muss sich das einen Weg suchen. Von außen mag das befremdlich aussehen, für uns ist es aber eins der wichtigsten „Werkzeuge“ zur Selbstregulation.

Da dieses oben beschriebene Verhalten jedoch von außen oft als seltsam eingeordnet wird, haben wir uns leider oft dieses Verhalten abtrainiert oder umgelenkt in weniger sichtbare Stimming-Varianten. Ich hatte bspw. lange gedacht, dass ich ja nicht das typische mit den Händen flattern mache – ich war also überzeugt davon nicht zu stimmen. Das war aber falsch. Durch Berichte anderer autistischer Menschen habe ich festgestellt, dass stattdessen folgende meiner Verhaltensweisen meine Art des Stimmings sind:

  • Finger kreisen/reiben
  • Ständig hin und her schwanken, wenn ich stehe (wie die Idle-Animation von Spielfiguren in PC-Spielen)
  • Echolalie (ich wiederhole ständig Wörter, Sätze oder Geräusche die ich mag)
  • Finger- oder allgemeines Gelenkknacken
  • Mit den Füßen wippen/zucken
  • Mit dem Bein wippen
  • Ohren kneten
  • Musik oder ASMR hören
  • Schöne Bilder anschauen
  • An meinem Schal riechen
  • An Duftsäckchen riechen
  • Angenehme Texturen immer wieder berühren

Gibt es auch „schlechtes“ Stimming?

Das sind meine eher positiven Stimming-Verhaltensweisen. Leider gibt es aber auch ungesundes Stimming – damit ist Stimming gemeint, das selbstverletzendes Verhalten umfasst. In meinem Fall sind das:

  • An der Wangen-Innenseite beißen
  • Kratzen
  • Schlagen

Das klingt jetzt nicht schön, aber auch diese Seite gehört leider für mich dazu. Mein Kratzen geht in die Richtung Dermatillomanie. Das Kratzen wird so extrem, dass es die Haut verletzt. In dem Moment ist es aber für mich ein Ventil, wodurch ich nach einem überfordernden Tag im wahrsten Sinne Druck ablassen kann. Der Schmerz kommt erst später.

Das Wangenbeißen nutze ich meist in Situationen, wo ich meine Hände, Füße oder Körper nicht für Stimming nutzen kann. Stattdessen beiße ich ständig unbewusst an der Innenseite der Wange, wodurch schon richtig kleine Knubbel in der Wange entstanden sind. Das Schlagen ist glücklicherweise ganz selten geworden. Das hatte ich eher nur verwendet, wenn ich alleine und komplett überfordert war. Meist war ich dann auch schon mitten in einem dissoziativen Zustand – ich hab alles wie durch eine Wolke wahrgenommen. Schläge aufs eigene Bein oder Ohrfeigen haben mich dann wieder aus der Dissoziation rausgerissen. Ich muss aber denke ich niemanden sagen, dass das keine gesunden Verhaltensweisen sind.

Mittlerweile habe ich es geschafft, Teile meiner ungesunden Stimmings umzulenken. Gegen das Wangenbeißen hilft mir bspw. Kaugummikauen und gegen das Schlagen habe ich z.B. so richtige pieksige metallene Bälle, die ich dann ganz fest in die Hand nehme. Dadurch habe ich dann auch einen starken sensorischen Eindruck, aber ohne mich dabei zu verletzen. Das Kratzen habe ich leider immer noch nicht unter Kontrolle – das ungesunde Verhalten hat sich vor über 20 Jahren entwickelt. Somit schaffe ich es auch nicht unbedingt es von jetzt auf gleich zu ändern.

Ich hoffe, ich konnte mit diesen ersten Artikel mal einen kleinen Einblick in das Thema „Stimming“ zu geben. Es werden denke ich noch einige Artikel zu diesem Thema folgen. Stellt auch gerne Fragen dazu – aber bitte habt Verständnis dafür, wenn ich nicht alle beantworten möchte oder kann.

Und das Wichtigste: Ich habe hier von meinen Erfahrungen berichtet. Für andere Autisten kann das wieder ganz anders aussehen. Stattdessen mag vielleicht eine andere Autistin auf und abzuspringen oder mit den Armen und Händen zu flattern. Das ist auch gut so – jede Art des gesunden Stimmings ist wichtig und gut und sollte nicht unterdrückt werden! Sobald ein Stimming jedoch selbstverletzend wird, sollte nach alternativen Arten des Stimmings gesucht werden, um sich keinen Schaden zuzufügen.


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1 Kommentar zu „Was ist Stimming und warum ist es so wichtig?“

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