Warum ich keine hochfunktionale Autistin bin

Ich beschäftige mich nun schon eine Weile mit den verschiedenen Definitionen rund um Autismus. Menschen reagieren mir gegenüber mit der Aussage „Autistisch – Du?? Du bist doch höchstens hochfunktionale Autistin! Oder hast Asperger“. Aber diese Bezeichnungen sind veraltet und sollten nicht mehr verwendet werden.

Es werden leider noch viel zu oft die veralteten Bezeichnungen wie „frühkindlicher Autismus“, „Hochfunktionaler Autismus“ oder „Asperger“ verwendet. Auch von Fachpersonal. Zumindest stolpere ich noch oft darüber, es werden aktuelle (!) Bücher mit diesen Titeln veröffentlicht, und ich wurde in 2022 noch nach der ICD 10 diagnostiziert, obwohl die ICD 11 eigentlich bereits gültig war. Dabei empfinden ich und auch viele andere Autist*innen – und auch verschiedene Fachexperten – eine solche Unterteilung nicht mehr als angemessen.

Genau aus deswegen wurden alle vorherigen Ausprägungen mit der ICD 11 unter dem Sammelbegriff Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Eben weil neuere Studien und wissenschaftliche Arbeiten immer mehr zu dem Ergebnis kommen, dass Autismus ein Spektrum ist. Und zwar heißt Spektrum, dass mensch sich nicht auf einer Linie von „wenig“ bis „stark autistisch“ bewegt. Stattdessen wird Autismus immer mehr so verstanden, dass von Person zu Person sich die Merkmale unterschiedlich ausgeprägt zeigen. Und sie können sich auch ständig verändern.

stilisierte unterschiedliche Menschen

Was bedeutet das genau?

Nun – für mich heißt das, dass ich ein gewissen Profil habe, das grundlegend angibt, wo meine autistischen Merkmale sich besonders deutlich zeigen und wo vielleicht eher weniger. Ich neige bpsw. bisher kaum zu Meltdowns. Stattdessen internalisiere ich meine Überforderung eher. Ich bekomme also eher Shutdowns. Dazu habe ich nicht so stark ausgeprägte Einschränkungen, was das Thema Essen betrifft – weil es für mich auch eine Form des Stimmig sein kann. So ergibt sich dann im Grunde ein Spinnennetz-förmiges Diagramm, das zeigt, wo meine Herausforderungen aber auch Stärken liegen. Und wo ich mehr oder weniger auf Unterstützung angewiesen bin. Vor allem unterscheidet sich mein Profil durchaus von dem anderer Autist*innen!

Richtig spannend wird es, wenn mensch dann feststellt, dass diese Unterstützungsbedarfe sich von Tag zu Tag oder sogar stündlich ändern können. An meinem Beispiel: Ich kann durchaus ohne Unterstützung vor einer großen Gruppe Menschen sprechen oder beruflich telefonieren. Aber es kann am gleichen Tag passieren, dass ich nicht (mehr) telefonieren kann, um einen Arzttermin zu vereinbaren. Und plötzlich brauche ich dazu Unterstützung. Oder ich muss auf der Arbeit früher Feierabend machen, weil ich mit einer plötzlichen Planänderung nicht zurechtgekommen bin und mich das in einen Meltdown oder Shutdown befördert hat.

Macht mich es nun „weniger hochfunktional“, wenn ich jemanden brauche, der für mich das Telefonat mit der Arztpraxis durchführt? Oder macht es mich „mehr hochfunktional“, wenn ich einen Vortrag ohne Probleme vor 30 Leuten halten kann? Wo ist da die Grenze?

Und genau deshalb lehne ich diese Einteilung in Funktionalitäten ab. Ich bin autistisch. Punkt. Und meine Unterstützung-Bedarfe schwanken in Abhängigkeit von meinem Umfeld und meiner aktuellen Verfassung.

Ich bin nicht „hochfunktional“

Die Einteilung in Funktionalitäten ist irreführend und schädlich. Da wären wir nämlich bei dem Thema, dass in unserer Gesellschaft ein „Funktionieren“ hoch gewertet wird. Egal wie kaputt es die Menschen macht. Und damit meine ich nicht nur Autist*innen. Stattdessen bevorzuge ich die Aussage, dass ich stark maskieren kann. Ich kann meine Andersartigkeit verdecken. Überspielen. Aber auch nur eine begrenzte Zeit. Und vor allem bekommt die Umwelt das Zusammenbrechen danach nicht mit. Das passiert im Stillen. Allein. Zu Hause.

Wichtig ist auch zu wissen, dass nicht alle Autist*innen stark maskieren (können). Es ist mir bewusst, dass das durchaus auch ein Privileg (?) ist. Es kommt aber zu einem sehr hohen Preis. Bspw. den Verlust der eigenen Identität, weil ich nie gelernt habe, ich selbst zu sein, die Dinge zu tun, die ich mag. Weil ich immer darauf achte, wie mich die Umwelt wahrnimmt. Weil ich ein Leben lang darauf reduziert wurde zu funktionieren.

Also bitte: sagt mir nicht, dass ich hochfunktional bin.
Ich bin hochmaskierend.


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