Finde Deinen Tribe

Mein erster Diagnose-Geburtstag rückt so langsam näher und das Jahr hat mich so einige Dinge gelehrt. Ich war mir über meine Herausforderungen bzgl. Reiz- und Stressverarbeitung schon sehr gut bewusst. Was ich das Jahr aber vorrangig lernen musste, war meine eigenen Grenzen zu erkennen, diese zu akzeptieren und diese auch zu verteidigen. Und dabei rede ich nicht bloß vom klassischen „Nein“ sagen oder das Erkennen der eigenen körperlichen Grenzen.

Ich habe das Jahr vor allem gelernt, dass meine Wahrnehmung und Bedürfnisse absolut valide sind. Dass ich mich nicht dafür entschuldigen oder gar schämen muss. Ich funktioniere anders, mein persönliches Energiemanagement sieht vollkommen anders als, als bei einer Neurotypischen Person. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass ich ein bestimmtes Umfeld brauche, um mich wohl zu fühlen, gesund zu bleiben und mich und meine Energie zu schützen. Denn darum geht es jetzt zentral:

Meine Energie zu schützen – denn sie ist wertvoll

Ein für Neurotypische Menschen aufgebauter Alltag kostet mich extrem viel mehr Energie. Wenn ich vermeiden will ständig einen Crash zu erleben, muss ich drauf achten, was mich Energie kostet und warum. Hier ein Beispiel, was mich den Tag über extrem viel Energie kosten kann:

  • Mein Tag startet nicht zur üblichen Uhrzeit
  • Die Kleidung, die ich trage, kratzt, ich spüre die Naht an meinen Socken oder meine Haarspange drückt mich
  • Ich habe ungeplante Termine auf der Arbeit, die ein hohes Maß an Maskieren (Neurotypisch spielen) erfordern
  • Es sind zu wenig Pausen zwischen Terminen eingeplant
  • Von draußen höre ich die ganze Zeit eine Baumaschine als beständiger Grundton
  • Mein Handy klingelt plötzlich und ein Familienmitglied oder Freund*in versucht mich telefonisch zu erreichen

Diese Punkte klingen für Neurotypische Menschen vielleicht überzogen. „Ja – mich nervt ein kratzendes Ettikette im Pulli auch..“. Wahrscheinlich aber nicht so, dass Du Dir nach einer Weile am liebsten die Haut von den Knochen reißen würdest. Oder der Anruf mich direkt in einen Meltdown befördert. Dass ich komplett die Kontrolle verliere und am Ende des Tages nur noch auf der Couch liege und schlafe oder mich hin- und herschaukel und nicht rede.

Und nein. Ich übertreibe nicht mit meiner Beschreibung. Die ständig brummende Baumaschine fühlt sich irgendwann wie ein Presslufthammer in meinem Hirn an. der Terminmarathon auf der Arbeit lässt mich immer stärker dissoziieren (vom hier und jetzt abspalten). Ich bin nur noch eine lächelnde Hülle vor der Webcam. Ich kann immer schwerer dem Gespräch folgen. Und dann klingelt das Telefon. Ich gehe nicht dran. Versuche im Nachgang per Nachricht zu erklären, warum ich nicht telefonieren kann. Bei den Einen kommt die Nachricht an und es wird verstanden, weshalb ich keine mentalen Kapazitäten mehr dazu habe, jetzt noch am Telefon zu sprechen. Auch ohne lange Erklärung.

Andere reagieren im ersten Moment vielleicht scheinbar verständnisvoll. Nach Wochen oder Monaten kann es aber passieren, dass mir dann um die Ohren gehauen wird (Rw), warum ich denn immer noch nicht telefoniere. Der Vorwurf, dass ich mich nicht so anstellen soll, schwingt mit. Man will doch nur mit mir reden.

Aber ich kann nicht

Es geht körperlich nicht. Die Verbindung von Hirn zu Mund ist gekappt oder eher ein seidener Faden (Rw). Mein Hirn ist so sehr auf Hochtouren gelaufen, dass nichts mehr geht. Meine Energie brauche ich, um einfach nur meinen Alltag zu bewältigen. Und ich habe mittlerweile gelernt zu akzeptieren, dass das ok ist. Ich muss nicht telefonieren, wenn das ein Kommunkationskanal ist, der mich überfordert. Ich telefoniere im Grunde nur mit meinem Mann, meinen Eltern/Tante/Schwester und wenn ich einen Arzttermin vereinbaren muss und es wirklich gar keinen anderen Weg gibt.

Wenn mein Gegenüber nun diese Art der Kommunikation nicht akzeptieren will, dann sind ich und meine Bedürfnisse scheinbar nicht wichtig genug. Ich habe mich 41 Jahre lang zusammengerissen und es allen anderen recht gemacht. Immer darauf geachtet, dass es anderen gut geht. Dass ich deren Wünsche und Anforderungen erfülle.

Dabei habe ich mich komplett verloren

Es hat mich krank gemacht. So richtig körperlich. Ich muss jetzt erst mühsam lernen, was mir gut tut. Was nicht. Was meine Grenzen sind und ob und wie ich diese zeitweise überschreiten kann. Welcher Preis dafür zu zahlen ist (Rw) und ob ich diesen auch wirklich zahlen will oder kann.

Bei diesem Lernprozess haben mir Therapie- und Coachinggespräche geholfen. Ich habe sehr viel gelesen und mich selber hinterfragt. Und ich habe angefangen Menschen zu suchen, denen es ähnlich geht. Andere Neurodivergente Menschen. Und plötzlich wird alles ganz einfach.

Da gibt es Menschen, denen ich mein Herz ausschütten kann, ohne sie jemals getroffen oder mit ihnen telefoniert habe. Wir kommunizieren schriftlich und das ist absolut ok so. Es wird nach den Grenzen des Gegenübers gefragt und alle Seiten versuchen diese gegenseitig zu achten. Es wird offen gesprochen. Ehrlich. Direkt. Ohne Subtext zwischen den Zeilen. Keine Erwartungen, die stillschweigend vorausgesetzt werden. Jede*r ist gut so, wie mensch gerade ist.

Und ich merke das erste mal so richtig, wie wichtig es ist, Menschen zu haben, für die man sich nicht anpassen muss. Bei denen man verletzlich sein kann und darf. Für die ich kein Lächeln aufsetzen muss. Und dass ich diese Menschen mehr in mein Leben lassen sollte. Und wer für mich kein Safe Space ist, geht halt nach und nach. Weil ich meine Grenzen endlich verteidige. Denn es kann nicht die Vorstellung einer gesunden Verbindung sein, dass es einer Person immer schlecht geht, wenn sie versucht diese Verbindung zu halten.

Wo ich meinen Tribe, meine Gemeinschaft, gefunden habe?

Auf Social Media gibt es sehr große Autismus- und Neurodivergenz-Bubbles (ich sag nur Dopamin-Maschinen). Zur regionalen Selbsthilfegruppe gehe ich bisher nicht, da mich Treffen vor Ort zu viel Energie kosten. Und ich müsste dazu einen weiteren Tag in die Stadt. Da bleibe ich lieber weiter hier im Grünen und vernetze mich digital per Messenger, Social Media oder auch hin und wieder per Videocalls, wenn die Energie stimmt. So habe ich gelernt, wie es anderen ergeht und wie viel Ähnlichkeit zu meinen Herausforderungen aber auch Stärken es gibt. Dass ich nicht alleine bin und dass meine Grenzen absolut in Ordnung sind. Dass es Menschen gibt, die auch lieber schriftlich kommunizieren. Und ich habe alte Kontakte wiederentdeckt. Denn irgendwie ziehe ich scheinbar ein Leben lang schon außergewöhliche Menschen an und ich muss einfach wieder da anknüpfen, wo mensch sich vor Jahren aus den Augen verloren hat.

Also baue Dir auch ein Netz aus Kontakten auf, die Dich wirklich verstehen. Digitale Kontakte sind genauso in Ordnung, wie welche vor Ort. Die Digitalisierung ist uns hier ein super Hilfsmittels, denn bspw. in den 90er hätte ich nicht so Freundschaften aufbauen können. Obwohl – ich erinnere mich an Zeiten von Brief- und Faxfreundschaften oder Freundschaftsheften, wo man sich gegenseitig Nachrichten reingeschrieben hat. Auch da war meine Kommunikation schon etwas anders. Also suche die Menschen, denen es ähnlich wie Dir geht. Nur Du kannst Deine eigenen Regeln und Grenzen bzgl. Freundschaften und Kontakten festlegen.


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